In diesem Beitrag

Man muss kein Brancheninsider sein um mitzubekommen, dass sich seit Corona etwas in der Fahrradwelt getan hat. Mit Blick auf die Kostenentwicklung stellen alle Radinteressierten fest: es ist alles viel teurer geworden. Fahrräder zu Mondpreisen (bei nun 20.000 EUR liegen wir für „Profimaterial“) sind kein Seltenheit. Etablierte Hersteller und Marken machen eine große Lücke auf, wo ehemals das Mittelsegment lag. Und ganz neue Akteure springen ein. Ich beleuchte in diesem Beitrag die aktuelle Marktentwicklung und wo heute der beste Kosten-Nutzen-Faktor zu finden ist. Mit ganz besonderen Blick auf billige Produkte von „Direct-to-Consumer“-Marken, vom Fließband in China direkt zu euch verschickt.

Aussicht – Auf und Ab in der Fahrradbranche

Specialized hat eine der rennomiertesten R&D (Research and Development) Abteilungen der Radbranche. Viele Neuentwicklungen kommen aus dem kalifornischen Ingenieurbüros. Diese rollen den Markt immer wieder auf und werden kopiert und nachgeahmt. Ein Beispiel ist das Specialized Aethos Rennrad, welches nicht für Profis sondern Jedermann-Rennrad-Enthusiasten entwickelt wurde. Wie kommt’s? Es it ein Rad welches nicht nach den Reglement der UCI in einem Straßenrennen gefahren werden könnte (es ist zu leicht) und gleichzeitig sollte das 2020 vorgestellte Rad ein Muskelspiel sein. Wenn man den Designern und Ingenieuren freien Lauf lässt. Der Preis war auch in einem „noch nie dagewesenem“ Spektrum: über 10.000 EUR stand auf dem Preisschild. Ein Novum, für das Geld bekam man 2020 noch zwei Profi-Rennräder.

Heute liegt das Aethos mit gleichen Komponenten-Gruppen (Shimano Dura Ace) bei knapp 15.000 EUR. Eine nie dagewesene Inflation, möchte man glauben. Nachfrage ist aber wohl der stärkste Preistreiber.

Damals noch als „mutig“ anmutende Preisgrenzen sind heute mehrfach gebrochen. Exklusive Räder gehen auch für 20.000 EUR über die Ladentheke. Eine Entwicklung, die nicht nur bei Rennrädern alleine zu beobachten ist.

Shimano hat in den letzten Jahren mehrere Neuvorstellungen und Versionen der Komponentengruppen präsentiert: Dura Ace, Ultegra und 105 sind die Flagschiffe des japanischen Herstellers. Dabei galt die 105er Gruppe lange Zeit als die „Mittelklasse“ mit dem höchsten Wertversprechen: beste Performance für einen überschaubaren Preis. So ganz überschaubar ist dieser heute nicht mehr. Bei Einführung 2022: 1.799EUR (UVP). Bei Rennräder für Einsteiger im Segment von ca 1.000EUR findet man heute keine 105er Gruppe mehr (in voller Ausstattung).

Ebenfalls die kürzlich neu vorgestellte Campagnolo EPS (2023) lässt den Blutdruck steigen: €5,200 werden für diese Top-Gruppe fällig. Ein noch nie da gewesener Preis, für eine Komponentengruppe allein. Das Rad dazu kostet noch einmal so viel, oder mehr.

Alle großen Hersteller scheinen sich im Wettbewerb um das teuerste Produkt überbieten zu wollen.

Mit all diesen Beobachtungen fragt man sich: wer soll das alles noch bezahlen? Und machen die etablierten Hersteller hier nicht gerade einen kolossalen Fehler, wird nicht der Anschluss an die Einsteiger und preisbewussten Käufer verloren? Ein Gedanke den Jens Klötzer im Antritt-Podcast auch mehrmals nennt (Weihnachtsfolge 2022). Es gibt keine bezahlbaren Einstiegs-Rennräder mehr.

Wo eine solche Lücke (oder Vakuum) entsteht da preschen gerne neue Akteure hinein. So zu vernehmen durch ein deutliches aufpoppen chinesischer Marken. Welche den Weg direkt via Online-Bestellung und Versand aus der Lagerhalle zu den Radfahreren in Europa, Australien und USA findet. Social Media flutet uns nunmehr mit Erfahrungsberichten der Billigprodukte:

  • Trace Velo (UK): Ein ganzer Channel der sich nur um Fahrradprodukte von AliExpress dreht, vom kompletten Rad, Komponenten und Teilen – absolute Schauempfehlung
  • Cam Nicholls (AUS): Aufbau eines Aero-Rennrads „ELVES“ vom Produzenten aus China.

Um wirklich nur ein paar wenige zu nennen, die ich auch gerne empfehlen möchte!

Diese Entwicklung triggert auch bei mir sehr viele Gedanken und Ideen. Und vor allem auch eines: Neugier. Ich kann diesen Trend nicht einfach nur beobachten, ich muss da auch selbst tief in die Materie hinein. Zwei Dinge dazu kurz gefasst:

  • ich möchte kurz auf die Vor-, Nachteile und Gefahren/Risiken eingehen
  • und gleichzeitig die Produkte testen und ein komplettes Billigrad aufbauen.
RideNow fordert die etablierten Schlauchhersteller im Segment der Kunststoffschläuche heraus, mit einer Kampfansage im Preis und im Gewicht.

Teilweise ist der Test auch schon gestartet und veröffentlicht worden (zuletzt im Beitrag zu TPU und Tubolito Fahrradschläuche). Es wird noch viel mehr folgen! Doch hier erst einmal eine Art „Disclaimer“ zu den Produkten, Risiken und Nebenwirkungen.

Billige Fahrradprodukte aus China: Motivation und Neugier

Es ist kein Geheimnis, dass viele Produkte, die wir täglich benutzen, aus China kommen. Das gilt vor allem für Fahrradprodukte. In den letzten Jahren haben immer mehr Radfahrer begonnen, billige Fahrradprodukte aus China zu kaufen. Aber was sind die Vor- und Nachteile dieser Entscheidung? Welches Risiko gehe ich als naiver Käufer ein? Lasst uns das zusammen erkunden.

Erstens, die offensichtlichste Attraktion: der Preis.
Fahrradprodukte aus China sind oft erheblich günstiger als ihre Pendants aus Europa oder den USA. Wenn Du einen begrenzten Budget hast oder gerade erst mit dem (Renn-)Radfahren anfängst, kann der niedrige Preis ein großer Vorteil sein. Du kannst ein funktionales Fahrrad zu einem Bruchteil des Preises erhalten, den Du in einem lokalen Fachgeschäft bezahlen würdest.

Wie oben bereits erläutert, der Preis ist aktuell entscheidend, vor dem Hintergrund, dass Fahrrad- und Komponentenpreise massiv steigen. Wenn ich auf die Beratung, Marketing und Vertrauen bereit bin zu verzichten, dann sinkt der Preis. Erheblich.

Zweitens, die Vielfalt.
China und Taiwan sind die größten Hersteller von Fahrradprodukten weltweit. Die Bandbreite der verfügbaren Produkte ist beeindruckend: von Fahrrädern über Zubehör bis hin zu Ersatzteilen. Egal, was Du brauchst, Du kannst es wahrscheinlich zum Dumpingpreis finden.

Drittens: Guter Reifegrad der Produkte
Vorbei sind die Zeiten, dass sogenannte „Billigprodukte“ für totalen Schrott standen. Wie ich in den nächsten Blogposts zeigen möchte: die Qualität und Preis sind zwei verschiedene Dinge. Aber dieser Vorteil hier bedarf einer längeren Vorgeschichte.

Produkte werden in China und Taiwan nicht einfach nach einer Blaupause in der Fabrik in Plastik- und Carbonformen gegossen. Der größte Teil der Entwicklungs- und Ingenieurarbeit steckt mittlerweile auch nicht mehr in den USA oder Europa. Auch das Design und Entwicklung kommen überwiegend aus Fernost, wie Brancheninsider berichten. Gleichzeitig steigen die Produktionskosten mittlerweile so stark, dass eine Fertigung der Produkte in China und Taiwan nicht mehr kosteneffizient ist. Firmen und Produktionsstätten wandern weiter ab in Länder mit niedrigeren Einkommensgrenzen. Und wer nicht mitzieht bleibt auf der Strecke. Fabriken und Produzenten aus China erkennen die Gefahr: wer selbst keine Marke (Brand) darstellt wird nicht bestehen können.

So entwickeln sich mittlerweile nicht nur Copycats und austauschbare Ramsch-Firmenlogos sondern tatsächlich Firmen mit einem langfristigen Interesse. Um mit ihren Kunden zu interagieren, Service anzubieten und in Konkurrenz zu treten mit Shimano und SRAM, wenn es um Komponenten geht. Das Beispiel hier wäre L-TWOO: Eine Marke die mit den etablierten Komponentenherstellern in den Wettbewerb gehen möchte. Kürzlich wurde eine elektronische Schaltgruppe vorgestellt. Hinter diesem Firmennamen steckt ein ehemaliger Ingenieur von SRAM.

Diese wachsende Selbstsicherheit der chinesischen Marken und Produkte ist ein Vorteil, weil gerade jetzt die Zeit reif ist. Konkurrenz belebt das Geschäft und als Konsument wird man diesen Vorteil auf seiner Seite haben.

Nachteile und Risiken

Erstens, die Qualität und damit einhergehende Gefahren:
Obwohl nicht alle Fahrradprodukte aus China von schlechter Qualität sind, gibt es leider viele Fälle, in denen billige Produkte minderwertige Materialien und Verarbeitung aufweisen. Das kann langfristig zu Sicherheitsproblemen führen. Schlecht verarbeitete Bremsen oder ein wackliger Rahmen können beim Radfahren gefährlich sein.

Am Beispiel vom Trace Velo YT-Channel sieht man, wie gefährlich kopierte und billige Produkte sind:

Video: Total Carbon Failure

Brüche am Vorbau gehören zu den größten Alpträumen eines Rennradfahrers. Man muss nicht lange suchen um über solche Vorfälle immer und immer wieder zu stolpern in diesem Channel: hier eine leicht angezogene Schraube, dort eine geplatzte Plastikschelle am Bremshebel, etc. Haarsträubend!

Gleichzeitig gibt es im gleichen Channel auch sehr hilfreiche Tipps genau solche Risiken zu minimieren. Sogar eine Statistik, wie viele Bestellungen nicht zugestellt wurden, wie häufig falsche Produkte geliefert wurden. Kurz zusammengefasst, auf folgende Risiken musst du eingestellt sein, bei Bestellungen direkt auf einschlägigen Chinaprodukt-Portalen:

  • Illegale Kopien renommierter Marken: Man kann auch auf Aliexpress originale Shimano Teile kaufen, jedoch wird gegen Fälschungen nur wenig vorgegangen. Solltest du Originale kaufen wollen achte darauf, dass die Marken nicht nur in Fotos auftauchen sondern explizit in den Beschreibungen und Titel erwähnt sind (solche direkten Markenrechtsverstöße werden auch in diesen Portalen geahndet).
  • kenne die Gefahrenstellen: Sicherheitsrelevante teile und empfindliche Komponenten (Carbon) gilt es zu meiden, wenn man Risiken per Ausschlusskriterium reduzieren möchte. Ganz ausschließen kann man diese aber nie, auch nicht bei etablierten Herstellern hierzulande. Ich musste mein Rose X-Lite auch mal wegen einer Rückrufaktion zurückschicken (Carbon-Gabel musste getauscht werden), solche Fehler können immer passieren und wenn man Glück hat kommt die Rückrufaktion vor einem Crash;
  • Kundenschutz auf AliExpress: zwar ist der Service und das Vertrauen nicht vergleichbar mit einem Amazon Shop (wo zur Not immer zu Gunsten des Bestellers entschieden wird, zB. wenn ein Produkt als „nicht zugestellt“ reklamiert wird bekommt man immer einen Ersatz). Hier ist die Mentalität zwar etwas anders, aber dennoch sind Umtausch und Rücklauf eine ganz normale Option.
  • noch mehr Statistiken zu Gefahren findest du im besagten YT-Channel
Manche Kopien sind leicht zu erkennen, wie dieser „ASS SAVER“ als auch der Ritchey Carbonsattel, die auf mich keinen guten Eindruck machen.

Ein nicht minder wichtiges Sicherheitsrisiko betrifft die Verwendung von giftigen Substanzen in der Fertigung oder anderweitig gefährliche Produkte. Kommt ein Produkt gänzlich ohne Kontrolle und Sicherheitsprüfung in den Verkehr, dann können Verbraucher schnell unwissentlich auch belastete Produkte in der Hand haben. Es gibt eine von der EU öffentliche Liste für bekannte Produkte: https://ec.europa.eu/safety-gate-alerts/screen/webReport#recentAlerts

Ich konnte aber nichts konkretes zu Fahrradprodukten bisher finden.

Abschließend bleibt zu sagen, dass es aktuell zumindest noch keinen mir bekannten solchen Hersteller oder Marken gibt, welche nach EU-Sicherheitskriterien zertifizierte Teile vertreibt. Somit ist die Frage von Gewährleistung und Garantie wohl negativ zu beantworten.

Zweitens, die Umweltauswirkungen
Der Transport von Produkten aus China trägt zu den globalen CO2-Emissionen bei. Wenn Du lokal kaufst, kannst Du Deinen ökologischen Fußabdruck verringern. Außerdem kann die Herstellung billiger Produkte zu mehr Abfall führen, wenn diese schneller kaputt gehen und ersetzt werden müssen.

Ein weiterer Nachteil ist die mögliche Unterstützung von unfairer Arbeitspraxis. Obwohl dies nicht für alle chinesischen Unternehmen gilt, sind einige für schlechte Arbeitsbedingungen bekannt. Durch den Kauf von Produkten aus diesen Unternehmen könntest Du solche Praktiken indirekt unterstützen. Da gerade beim Direktkauf es noch weniger Klarheit über die Bedingungen gibt, unter denen Hergestellt wird. Es ist anzunehmen, dass europäische Unternehmen, welche ihren Einkauf entsprechend leiten, strenger überwacht werden als der „Direktkonsument“.

Drittens, Reparatur, Wartung und Installation:
Hast Du ein Rad oder Komponenten aus Fernost bestellt, dann solltest Du damit nicht bei deiner Radlwerkstatt um die Ecke aufkreuzen. Diese wird den Rahmen und Komponenten zu keinem komplett fahrbereitem Fahrrad auf die Räder stellen können, da es keinerlei Garantie und Sicherheit gibt für die zu verbauenden Komponenten. Sollte das Carbon doch brechen oder die Bremsen versagen, dann könnte die Werkstatt mit in die Haftung rücken. Und damit schließt man sich jegliche lokale Hilfestellung aus. Du bist mit diesen Teilen komplett auf dich allein gestellt.

Fazit und Ausblick

Wir können uns darauf einigen, dass es starke Vorteile- aber nicht minder wichtige Nachteile und Risiken gibt. Der günstige Preis und die große Vielfalt können verlockend sein, aber Du musst auch die möglichen Nachteile in Betracht ziehen. Qualität, Sicherheitsaspekte, Umweltauswirkungen, Arbeitspraktiken und Kundendienst sind wichtige Faktoren.

Bei der Auswahl von Fahrrprodukten lohnt es sich, ein wenig mehr Zeit und Mühe in die Recherche zu investieren. Versuche, Informationen über den Hersteller zu finden, und lese Bewertungen von anderen Kunden. Wenn es um Sicherheit und Langlebigkeit geht, könnte es sich lohnen, ein bisschen mehr Geld für ein Qualitätsprodukt auszugeben.

Ein Tipp: Panda Podium ist ein neues Portal (gestartet Mai 2023 von Brancheninsider und in China ansässigen Joe Whittingham) welches eine Art „Mittelsmann“ darstellt. Die Idee ist einen sichereren Raum für Käufer anzubieten als andere Portale. Produkte werden nur nach ausgiebigem Test ins Sortiment aufgenommen, es sind primär „etablierte“ Marken aus Asien vertreten (nicht nur China und Taiwan) und alle Bestellungen werden erst lokal zusammengefasst und gemeinsam verschickt.

Ich würde nicht zustimmen, dass Du alle chinesischen Fahrradprodukte meiden solltest. Tatsächlich gibt es viele chinesische Marken, die für ihre ausgezeichnete Qualität und ihren Kundendienst bekannt sind. Sie sind in der Regel etwas teurer als die wirklich billigen Optionen, aber immer noch erschwinglicher als viele westliche Marken. Das könnte eine gute Option sein, wenn Du auf der Suche nach einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis bist.

Und genau das lockt mich so sehr an dem Thema. Ich bin kein Aficionado teurer Marken und Produkte, man sieht mich eher auf einem Rose Rennrad in ziemlich alltäglichen Rennradklamotten.

In den nächsten Wochen und Monaten werden einige Produkttests von Fahrradrahmen, Komponenten und Kleinteilen auftauchen. Dieser Beitrag hier legt quasi den Grundstein für einen kompletten Fahrradaufbau mit sehr günstigen bzw. preiswerten Einzelteilen.

Zuletzt bleibt mir noch übrig zu sagen: es ist auch wichtig, daran zu denken, dass jeder Kauf eine Art Abstimmung mit Deinem Geld ist. Wenn Du Produkte kaufst, die lokal hergestellt werden, unterstützt Du lokale Arbeitsplätze und reduzierst Deinen ökologischen Fußabdruck. Wenn Du Produkte von Unternehmen kaufst, die für faire Arbeitsbedingungen bekannt sind, hilfst Du, eine bessere Arbeitswelt zu fördern. (wobei auch hierzulande der Arbeitskampf zwischen lokal ansässigem Hersteller Canyon und dessen Belegschaft einen kleinen Schatten wirft)

Fahrradfahren ist eine wunderbare Aktivität, die sowohl Spaß macht als auch gut für die Umwelt und die Gesundheit ist. Bei der Auswahl Deiner Ausrüstung solltest Du sorgfältig abwägen, was für Dich am wichtigsten ist. Vielleicht findest Du, dass die Vorteile von billigen Fahrradprodukten aus China die Nachteile überwiegen, oder vielleicht entscheidest du dich für eine teurere, aber nachhaltigere Option. Es ist Deine Entscheidung, und es gibt keine „richtige“ Antwort.

Wie denkt ihr über das Thema?