Auf manche Touren bereitet man sich akribisch vor. Plant im Winter die Touren für den Sommer. Erstellt GPS Tracks, plant die Ausrüstung. Checkt Komoot, Google Maps mit Satelitenansicht und auf Strava die Heatmaps, Trampelpfade anderer Radfahrer. Und dann gibt es solche Momente: „Ich war noch nie auf Rügen. Und eine richtige Langstrecke steht noch auf der ToDo Liste für 2020“. Und dann findet man sich verzweifelt im verregneten Wald, Nachts um 2 mit zwei platten Tubeless-Reifen und nur einem Schlauch. Aber was ist schon Scheitern.

Und tatsächlich etwa so spontan ergab sich mein Rügen Abenteuer. Denn irgendwie dachte ich mir, es wäre doch schön zur Sommersonnenwende eine Nacht durchzufahren. Richtung Osten fahrend geht die Sonne im Rücken unter. Und danach fährt man nur noch auf den Sonnenaufgang zu, zur kürzesten Nacht des Jahres. Klingt doch romantisch. Kurz Google gecheckt: Sommersonnenwende ist exakt nächsten Samstag. Oh. Ja. Wieso nicht mal spontan los fahren?

Samstag ist zwar schon verplant, aber ich könnte mir ja Freitag frei nehmen und schon Donnerstag los. Nach der Arbeit früher raus und dann die Nacht durch und den Freitag auch noch mitnehmen. Die kurzfristige Planung sollte aber nicht die einzige Herausforderung werden.

Holpriger Start

In wenigen Tagen den Track zusammenzustellen war eine Aufgabe. Sich für ein Setup zu entscheiden eine andere. Parallel das Wetter im Auge behalten. Aber tatsächlich war es die schwerste Entscheidung, ob ich nun auf Lightweight Bikepacking (mein Trek Checkpoint Carbonrahmen mit 1-fach Schaltung und Di2, knapp 8kg Leergewicht) setze oder mein BlackForestFrameworks Stahlrahmen Abenteuerrad packe (Shimano 105 mit längerer Rennradübersetzung, Gepäckträger vorne, Schutzbleche und Licht dank Nabendynamo). Nachträglich wünsche ich mir anders entschieden zu haben, doch es überwiegt der Wunsch nach einem leichten Setup.

Es soll mein Checkpoint mit minimalen Taschen am Rad sein. Wenn schon kein Zelt und Schlafsack, dann gleich All-In und alles Gewicht sparen.

Eine Lenkertasche (für die Kamera), eine Rahmentasche (oberes Rahmendreieck) mit einem Stativ und allerlei Kleinteile und zuletzt die „Arschrakete“ für Klamotten. Ohne Zelt oder Bivi bleibt das Setup klein. Für die lange Strecke werden die Auflieger montiert, um die Hände zu entlasten. Und so steht mein Setup für das Rügen-Abenteuer..

Bleibt übrig das Wetter im Auge zu behalten und einen halbwegs stabilen Track zu erstellen.

Routenplanung über Inseln

Ziel ist Rügen. Auf dem Weg dahin liegen aber viele schöne Checkpoints, wie zB. die Insel Poell oder die gesamte touristisch erschlossene Ostseeküste am Hansegravel Weg entlang. Meine Routenplanung ergibt einen Weg von Lübeck bis Bergen auf Rügen (und zurück zum Greifswalder Bahnhof) mit knapp 360km. Aufgeteilt in drei Checkpoints die je 120km auseinander liegen. Um diese drum herum plane ich die Pausen und Verpflegung als auch, welche Strecke bei Tageslicht und welche Nachts befahren wird. Leider mache ich dabei einen wichtigen Fehler, der mir später zum Verhängnis wird.

Grober Plan:

  • 16 Uhr Start in Lübeck: erste 120km bis Bad Doberan, wo ich noch vor 21 Uhr etwas warmes zu Essen bekomme
  • 22 Uhr weiter über Halbinseln bis Stralsund vor Rügen (120km)
  • 03 Uhr auf Rügen und dort eine große Runde über die Insel (letzte 120km), evtl. etwas Schlaf am Strand nachholen; noch bevor jemand aufgestanden ist; und natürlich Fotos vom Sonnenaufgang am Strand

Regen auf Rügen

Abgehetzt sprinte ich noch schnell nach Hause, um die mini Rennrad-Regenjacke in meine Trikottasche zu stopfen. Dann zurück zum Hbf und nach Lübeck, auf dem Weg merke ich schon, dass ich keinerlei Zwischenverpflegung eingepackt habe. Keine Gels, Riegel oder was zu knabbern. Und ein kleines Fahrradschloss für den kleinen Einkauf ist auch nicht dabei. Wie viele 2€ Schlösser ich schon unterwegs aus gleichem Grund gekauft habe… aber diesmal wirds auch ganz ohne unterwegs Einkaufen klappen müssen.

Die Nachmittagssonne brät mich entlang des Ostseeküsten-Fernradwegs. Immer wieder erhasche ich einen Blick durch kleine Wälder auf die Ostsee. Die Strecke nach Travemünde gen Osten bis Wismar und Kühlungsborn ist malerisch schön. Surfshops scheinen hier geradezu aus dem Boden zu sprießen, wo man Kaffee und Kuchen als auch Wassersportausrüstung bekommt. Dann und wann fährt man durch historische Städtchen mit Burgen und Klöstern. Und wie geplant erreiche ich schon bald Bad Doberan. Mein erster Checkpoint ist erreicht. Inklusive der pünktlichen Essenspause. Der Regenradar zeichnet aber keinen schönen weiteren Verlauf für das kommende Nachtsegment.

Nachts im Regen (im Wald)

Der Weg führt immer gen Norden über einen natürlichen Deich, der den Saaler Bodden von der Ostsee trennt. Bis man tief auf der Halbinsel einen 15km Weg durch ein wäldliches Naturschutzgebiet schlägt.

Die letzte Fähre über den Kanal nördlich von Rostock geht um 22:45. Nur noch eine dreiviertel Stunde bis zum 10km entfernten Terminal. Dabei setzt der Nieselregen ein und ein noch stärkerer Schauer ist im Anzug. Pünktlich zur letzten Fähre komme ich durchnässt am Ticketautomaten an und kann regengeschützt übersetzen. Auf der anderen Seite nutze ich die Haltestelle um mich auszuruhen und meine Motivation zu hinterfragen. Laut bahn.de könnte ich aber um die Zeit sowieso nicht zurück nach Hamburg, dann eben doch den Schauer abwarten und gleich weiter. Geschickt lege ich mich so auf die Bank, dass ich die Banane in der Trikotasche zerquetsche. Dabei ist diese ein gutes Abbild wie ich mich fühle, vor der Aussicht im Nieselregen durch die Nacht auf die Halbinseln zu gehen.

Zähne schlotternd fahre ich gegen 23:30 nach meiner Zwangspause wieder los. Bis der Körper wieder auf Temperatur ist muss ich den ersten Teil im Dunkeln frierend aushalten. Denn die Hotels an der Fähre zur „Hohe Düne“ sind schnell außer Sicht und der Radweg bleibt einsam. Und so schluckt mich der dunkle Wald in der Nacht.

Regen spritzt nur noch durch die Reifen hoch oder wenn gelegentlich der Wind kleine Schauer von den Blättern holt. Nach knapp 10 Stunden Fahrtzeit gegen 0:00 Uhr fordert die Nacht langsam ihren Tribut, die leeren Straßen laden ein sich nach vorne zu lehnen und auf den Auflieger/Aero-Lenkeraufsatz die Hände zu entlasten. Bis die Nackenmuskeln versagen. Dann kann ich meinen Kopf kaum noch so hoch heben um die Straße vor mir zu sehen, außer ich Stütze mich auf den Ellenbogen, der auf den Aero-Bars aufliegt. Dass das überhaupt geht lerne ich in dem Moment. Ob das gesund ist muss jeder selbst wissen.

Mein Zeitplan ist seit der Regenpause schon kaum zu halten. Und so geht es immer weiter gen Norden, auf die Halbinsel. Erstaunlich viele Ferienwohnungen entlang des Deichs, auf dem der Radweg entlang führt, haben noch Licht oder Fernsehflachkern zur späten Stunde. Gegen 01:00 sehe ich noch die letzten Personen, Jugendliche die ihren Weg durch die Nacht gehen. Bis der Weg endgültig die Zivilisation verlässt, zumindest für ein längeres Stück.

Immer mehr Füchse und Hasen kreuzen meinen Weg. Später auch eine ganze Wildschwein-Familie. Zum Glück nur ganz kleine Artgenossen, vor den größeren Exemplaren sehe ich zumindest nichts und suche schnell das Weite.

Immer länger bin ich nun im Wald, es bleibt sehr dunkel unter der dicken Wolkendecke. So viel zur „hellsten Nacht“ des Jahres. Der Pfad auf dem Deich ist nun zu einem reinen Waldweg geworden und es wird immer ruppiger. Immer wieder spüre ich wie der Luftdruck in beiden tubeless Reifen nachlässt. Bis ich schon die Berührungen der Felge mit Wurzeln spüren kann. Bloß nicht im Wald eine Panne, ich will alles nur nicht stehenbleiben, irgendwelche Geräusche hören und mutterseelenallein da stehen. In Gedanken checke ich mein Equipment: nur ein Ersatzschlauch. Der hintere Reifen war sowieso undicht, da er schon einige Schnitte kassiert hatte noch bevor er zum Tubeless konvertiert wurde. Dass der Druck aber so weit nachlässt liegt an dem Untergrund. Der ihm alles abverlangt.

Irgendwann komme ich nicht Mal mehr um die Kurve und sehe es ein: ein Pitstop wird unumgänglich. Mitten auf einem sandigen Reitweg im Wald packe ich die matschige Werkzeugtasche aus. Der Schlamm und Sand am Reifen helfen auch nicht. Als ich dann plötzlich die Kassette von der Nabe abfällt dreh ich durch. Bis heute kann ich es mir nicht genau erklären, denn der Lockring sitzt fest, aber irgendwie hat sich der Freilauf gelöst. Und Sand ist da jetzt auch drin. Also erst Mal den Schlauch in den mit Tubelessmilchpampe vollgeschmierten Reifen einsetzen. Freilauf einstecken und das Rad irgendwie zurück in den Rahmen an einem Stück bringen. Die Finger klebrig vom Silikon-Sand-Gemisch. Aber immerhin ist der Wald ruhig und meine Panik Angst war natürlich unbegründet, aber das schreibt und liest sich leichter als es vor Ort ist. Irgendwas steckt in uns, das einen dunklen Wald mit Gefahr und Verwundbarkeit verbindet. Vielleicht weil man sich hilflos vorkommt, weil keine Sicht (stattdessen aber spitze Ohren, die Dinge hören die man sonst nicht hört) und so weit außerhalb der Komfortzone wie nur denkbar. Der Vorderreifen wird einfach nachgepumpt und es geht tatsächlich wieder weiter. Nicht nur das, es geht sogar wieder aus dem Wald in eine Siedlung (Prerow) über. Motivation rauf und weiter.

Endlich hat sich der Track auch wieder nach Osten gedreht. So komme ich endlich dem Ziel auch geografisch näher. Und statt Bäumen bin ich wieder auf einem asphaltierten Deichradweg. Als ich plötzlich ein Zischen höre. Und so verabschiedet sich auch mein einziger Schlauch. Genialerweise einer aus Silikon, den ich dank des kleinen Packmaß mitgenommen habe. Mit dem Fahrradschlauch-Flicken wird’s also nichts. So viel zum tollen Setup 🙂

Und so beschließe ich gegen 3:00 Uhr am Morgen diesen Versuch nach Rügen zu kommen für dieses Mal gut sein zu lassen. Weder wird es noch einen tollen Sonnenaufgang unter der Wolkendecke geben noch werde ich einen Strand heute sehen. Stattdessen bin ich wieder in der Bahn App.

Die letzten 7 km schiebe ich das Rad um den ersten Zug aus der Pampa bei Stralsund nach Rostock und wieder Hamburg zu nehmen. Beim Umsteigen und im Zug muss ich zwar noch aufpassen beim einnicken nicht ganz einzuschlafen. Und so blöd dieser Versuch leider wieder an der Technik aber auch meiner unzureichenden Vorbereitung gescheitert ist. So war es doch ein Abenteuer. Und ich habe genau das erreicht was ich eigentlich wollte. Die Grenzen getestet und so weit gekommen wie bisher noch nie. Also was ist schon scheitern.